Stadtspaziergang
©Claudia Käfer
Früh am Sonntagmorgen, wenn das Tageslicht naht, fahre ich in die Stadt - in unsere kleine Stadt. Kein Mensch ist unterwegs und das Sommerlicht ist klar, die Luft frisch und es ist so still. Das ist es was ich suche: Nicht den Lärm, die Menschenmengen, in denen jeder in der Anonymität verschwindet oder Begegnungen wie Blitzlichter nur kurz aufleuchten, um dann gleich wieder zu verschwinden.
Sich zeigen, dass man noch lebt.
Ich suche auch nicht jene blinde Dynamik der Menschenmenge die undifferenziert einem Idol folgt, in Gefühlen der Gemeinsamkeit und Solidarität wogt und in der der Einzelne in einem Meer scheinbarer Geborgenheit für Momente die Beziehung zu seinem Selbst verliert.
Und dann doch am nächsten Tag alleine aufwachen. Mit wehem Kopf meistens. Und einer Hoffnung weniger.
Ich suche was übrig bleibt. Ich suche was bleibt. Welche Spuren hinterlassen Menschen?
Karg weht eine zusammengeknüllte Papiertüte auf dem Pflaster. Sie trollt sich in Richtung Stadtmitte, dem Wind hinterher. Überhaupt: Menschen hinterlassen ganz schön viel Müll, da sind die Zigarettenkippen das kleinste Übel und mich erfreuen sie sehr, sind sie doch Zeichen einer uralten menschlichen Tradition, miteinander Dampf abzulassen und den Frieden zu beschwören - den Frieden untereinander und mit sich selbst...aber angeblich soll das ja gesundheitsschädlich sein. Das ist Krieg auch denke ich, und die Augen ziehen weiter.
Leere Flaschen liegen als Zeichen erkaufter Glückseligkeit, als Zeichen der Hoffnung auf die Freundlichkeit der euphorisierten Augenblicke, als Illusion der allumfassenden und unerreichbaren Geborgenheit überall und in vielen Farben. Überdesignte Etiketten rufen verschiedene Botschaften: fühl mich, schmeck mich, fass mich an, zeig dich mit mir, ich belebe dich, ich erfülle deine Erwartungen!
Sie sind alle leer, liegen am Boden, stehen vor Schaufenstern und auf der verschlossenen Kirchentreppe...wieso darf eine Kirche jemals verschlossen sein? Ach so ja, wegen des Vandalismus...es geht wieder mal um Gegenstände, nicht um Menschen oder Inhalte, für die man steht.
Das Glockenspiel gibt einsame Töne von sich und ein kleiner Mann sitzt in seinem Sessel und versucht aufzustehen? Auf jeden Fall hat er wache Augen und ein edler Freibeuter in leuchtendem Orange erhellt mein Gesicht. Ein Zeichen der Freiheit, ein Zeichen der Nonkonformität - endlich etwas, das sich abhebt vom üblichen Getöse der sich wiederholenden und Sicherheit versprechenden Gleichmut, die ja so oft ausgrenzt, sich abschottet gegen Andersartigkeit und Vielfalt.
Aber es gibt keine Sicherheit für gelingendes Leben. Auch kein Rezept. Überhaupt, was ist das: gelingendes Leben oder plakativer formuliert: Glück. Wozu auch?
Die Weiber vor dem Eiskaffee lachen mich aus mit ihren bronzenen Gesichtern und rufen mir fragend zu: Was willst du?
Ich will sehen, was übrig bleibt von den Menschen - welche Zeichen hinterlassen sie? Es gibt Zeichen der Freundlichkeit, gemalt und gesprayt von Menschen in dieser Stadt. Jede bemalte Fläche ist ein Symbol einer Hoffnung: Die Menschen mögen doch inne halten und hin-schauen, nach-denken, mit-fühlen, ihren Alltag durchbrechen und diese Etikettierungen verstehen. Farbige Zeichen und Tools, dass wir eben nur ein Leben haben, das wir gestalten können - irgendwie und egal was es mit uns macht und dass es gilt, die Gestaltungskraft aller zu nutzten. Die Vielfalt ist Quelle der Kraft, wenn wir sie friedlich und tolerant gemeinsam nutzen.
Mein Spaziergang belebt mich, freut mich, weil ich Menschen in dieser Stadt sehe, die für Werte stehen, die Sinn machen. Männer und Frauen, die für die Gemeinschaft Impulse setzen, im Geiste einer toleranten, innovativen und kreativen Gesellschaft in der jeder einzelne etwas tun kann.
Eine Woche später beim Meister persönlich: Er fragt mich, ob wir eine Patenschaft für einen kreativen Stromkasten übernehmen würden. Klar machen wir das für zwei Kästen - und für die Idee einer freundlicheren Stadt.
Das Gespräch mit dem Künstler ist inspirierend und sein Atelier - mitten in der Stadt - eine Oase zum Durchatmen!
Wir überlegen, welche Inhalte wir transportieren könnten. Der Kasten vor dem Ärztehaus mit Symbolen für die Fachrichtungen? Herz, Gehirn, Knochen, Muskeln und wir überdenken Symbole für das Leben, für Heilung und auch ein Totenkopf kommt ins Spiel. Wir verwerfen ihn wieder mangels Prospektivität, obwohl wir drei uns einig sind, dass der Tod definitiv zum Leben gehört und manchmal auch durchaus als freundlicher Geselle daher kommen kann. Doch vor einem Ärztehaus vielleicht nicht ganz so gelungen.
Äsklepios, der umherziehende Heiler (was in Deutschland heute natürlich definitiv verboten ist;-), war der Arzt mit wunderbaren Heilmethoden. Er war so gut, dass er den Zorn/Neid der Götter weckte. Er hatte stets einen mit einer Natter umwundenen Wanderstab bei sich, der ihm als Stütze diente.
Der Schlange wurden magische Kräfte nachgesagt, wie Heilung oder Verjüngung durch Häutung. Im Gilgamesch-Mythos bewacht sie das heilende Zauberkraut und aus ihr konnte man Pharmaka herstellen. Der Stab ist das Symbol der Verbindung zwischen Himmel und Erde und so wurde der schlangenumwundene Stab schon vor Jahrtausenden das Symbol der Ärzte und Apotheker.
That’s it, denn alte Symbole versteht jeder, egal welche Sprache man spricht.
Wir überlegen weiter was das Leben so ausmacht, welche Funktionen den Menschen bestimmen, denn der zweite Kasten steht an. Wie so oft, wenn man über Symbolik nachdenkt, kommt Carl Gustav Jung ins Gespräch. Seine Ideen der Funktionen der Seele haben Farbe bekommen:
Das Blau für das Denken und das Rot für das Fühlen. Das Gelb beleuchtet die Intuition und das Grün ist die Farbe des Empfindens (der Sinne). Der Sperber steigt mit gespreizten Flügeln aus der Mitte empor, als Zeichen für Freiheit, für Reifung, für Individuation die eingebettet in einen sozialen Kontext gelingt. Nicht nur bei Hermann Hesse gelingt, sondern jetzt auch bei uns!
Wir sind gespannt und jeden Morgen wachen wir auf, und spähen aus unserem Dachfenster, ob sich an „unseren“ Kästen schon was verändert hat. Es ist ein spannender Prozess, denn das Wetter im November ist nicht gerade zuverlässig. Ein aufmerksamer Nachbar ruft an: „Da hat gestern einer mit Kapuze an dem Kasten rumgemacht! Am Sonntag!“ Natürlich beruhige ich ihn freundlich, denn die Grundierung war mir auch schon aufgefallen.
Dann ist es soweit. Mein Mann schickt mir ein Foto vom Äskulapkasten, ich fahre hin und freu mich so! Tatsächlich, dem Mann mit der Kapuze ist etwas Wunderbares eingefallen.
Ein paar Tage später ist auch der Seelen-Kasten in der Lisztstraße fertig und er inspiriert mich jeden Tag, wenn ich daran vorbei gehe: Danke Matze! Das ist 100% KUNST.