Der Stromverteiler

© Ida Odine Blocks

Er gehörte zu den Guten. Warum sonst wohl hätte er Freitag für Freitag bei sengender Hitze auf dem Schlossplatz verbracht, nun noch verschärft durch das obligatorische Tragen eines Mund-Nase-Schutzes, von den Eingeweihten nur verächtlich „Maulkorb“ genannt?

Mund-Nasen-Schutz-Pflicht, ein Wort wie eine Verstopfung. Erst der Skandal um Stuttgart 21, dann die Entwertung seines Diesels, „Enteignung“ träfe es besser, und jetzt die Mutter aller staatlichen Gängelungen. Die Mund-Nasen-Schutz-Pflicht.

Eine lange Linie der Verschwörungen zog sich im Kopf des Antonius Schmidt hin zu dieser einen letzten.

Und Antonius Schmidt war aktiv. Ein Macher, ein Veränderer, ein Revoluzzer. Männer wie er hielten die Welt am Laufen und brachten den Fortschritt, den Wind der Veränderung. 

Im Moment war sein Hauptprojekt, den Ausbau der Stromtrasse durch seine Heimatregion zu verhindern. „Klingt erst mal seltsam, ich weiß“, tausendmal hatte er es jugendlichen Mitstreitern für die gute Sache erklärt, in geduldigen Worten auseinandergesetzt. „klingt seltsam, ist aber so. Windkraft ja, aber die Windräder – wusstet ihr, dass mehr Wildvögel ihrem erbarmungslosen Schlag zum Opfer fallen als der Luftverschmutzung und der Vernichtung von städtischen Grünflächen zusammengerechnet? Solches Morden kann ein verantwortungsvoller Mensch nicht befürworten. 
Aber sein eigentlicher Antrieb, die „hidden agenda“ des Antonius Schmidt, war eine andere: Er kämpfte gegen „die Strahlungen“. 

Er tat sich nur schwer damit, diesen Sachverhalt seinen noch unbedarften Adepten zu vermitteln. Er erforderte wohl bereits einige Erfahrung mit den „feinen Energien“, dies zu begreifen. Kein Wunder also, dass ihm nicht jeder folgen konnte. Er verzieh es ihnen, aber die ständigen Erklärungen ermüdeten ihn auch.

Die Natur hingegen versprach Ruhe. 

Deshalb lebte er auf dem Lande, im Haus seiner Vorväter, in der Einliegerwohnung seiner Frau Mutter, aus freien Stücken. Der Blick aus seinem Fenster des Halb-Parterre ging direkt auf eine saftig grüne Wiese von pastoraler Gelassenheit. Nun ja. Zur Hälfte. Die andere dunkle Hälfte, der blinde Streifen seines Lebens, war dem Halb-Parterre geschuldet. 

Er hatte zuletzt einige Steine geworfen. Aber was tut man nicht alles im Affekt.

*

„Du sollst den Stall ausmisten!“

Die Wolken zogen vorbei, weiße Kondensstreifen in bauschiger Watte, ein sanftes Wasserblau.

Antonius Schmidt lag auf dem Rücken, der Geruch von frisch gemähtem Gras, aufdringlich und beruhigend zugleich, vermischt mit dem unvermeidlichen Diesel des Rasenmähers.

Den Stall – ja, und noch einiges mehr in seinem Leben hätte er auszumisten gehabt, aber es bestand ja keine Eile, keine Dringlichkeit. Sein 49. Geburtstag stand ins Haus, aber man ist so alt wie man sich fühlt. 

Es war die kindliche Handschrift seiner Mutter, mehr Vorwurf als Aufforderung, welche ihm von dem abgerissenen Briefumschlag, der von seiner Einliegerwohnungstür baumelte, entgegen starrte.

„Ja, Mutter.“

Sie betrieb eine Nebenerwerbslandwirtschaft, deren stolzer Erbe  Antonius Schmidt war.
Der Stall beherbergte 50 Hennen, einige Gockel und, im Nebengebäude, ein paar Schweine, schwäbisch-hallische, für die die findige Mutter dankbare Abnehmer in der Spitzengastronomie gefunden hatte. 

Unser Held war gerade dabei, die Mistgabel zu schultern und war bereits im Begriff, die Tür zu den Holzverschlägen zu öffnen, die Stiefel quietschend vor undefiniertem Dreck, als ihm plötzlich – oh heiliger Antonius – eine Eingebung kam. Unvermittelt ließ er den Türknauf sinken (was in der Folge zur bedauerlichen Flucht des stattlichsten der schwäbisch-hallischen Masttiere führte) und schlurfte wie traumwandlerisch, immer eine Spur von Schweinekot hinter sich her ziehend, davon.

Antonius Schmidt, der Revoluzzer, der Seher, wandelte wie magisch angezogen zum Strommasten, dessen entferntes Summen ihn so unwiderstehlich angezogen hatte. Von diesem Moment an sah Antonius Schmidt klar. Ein Ende musste es haben! Ein Ende mit der Luftverschmutzung, und, wichtiger noch, ein Ende mit der Verschmutzung des Äthers und der 'feinstofflichen Ebenen'. Eine Ende auch mit dem hiesigen Strom- und Gasmonopolisten.

Die Zeit des passiven Widerstands war vorbei, er ging nun in die aktive Phase.
„Durch diese hohle Gasse muss er kommen..“ ein wenig Schiller konnte nie schaden und wie bei Schiller lag auch beim Schwaben Antonius Schmidt ein gewisser versteckter, aber umso unausrottbarer Widerstandsgeist in seiner Natur.
 
Er stand nun neben dem Strommasten und stimmte sich ein auf dessen hochgespanntes Brummen, ein unausgesetzter Kopfwehton, der die sanften Linien der getreidegelben Landschaft durchschnitt. Für einen Moment versank er in diesem elektrischen Rufen und vergaß, wer er war und wo.

*

Und wie er wieder gen Himmel blickte, überflog ihn der Rotmilan in engem Kreis, wie absichtlich. 
Es war Vorsatz seitens des Vogels, ganz gewiss, Antonius Schmidt konnte sich dieses Eindrucks nicht erwehren. Seine plumpe menschliche Erscheinung: Weder Beuteschema, noch Bedrohung. Es war Interesse. Oder etwas Höheres. Ein Zeichen.

Antonius Schmidt kratzte sich am Kinn. Die Stoppeln seines Dreitagebartes juckten, aber „oppositionell“ und „hip“ zu sein – auch in seinem Alter - hatte eben seinen Preis.
Die Sonne blendete ihn und er kniff die Augen zusammen. Ganz einsam stand er da, den Kopf gen Himmel gedreht.  

Das Geschöpf faszinierte ihn, elegant wie ein Kampfjet seine schwarze Silhouette, mit der er enge Kreise um die Sonne zog, wohin die irdischen Augen ihm nicht folgen konnten, nur um wenige Sekunden später in sorglosen Tiefflügen sein Können unter Beweis zu stellen. 

Für einen Moment sah Antonius das Gefieder des Tieres auf wenige Meter Abstand, sein weiches Braungrau, vermischt mit Weiß, die aerodynamische und elegante Spreizung seiner Flügel wie ein antiker Faltenwurf. Das kupferne gleißende Rot, das mit jedem Lichteinfall den Farbton veränderte, wenn es unter einem günstigen Winkel kurz aufblitzte. 

Antonius glaubte das Rufen des Tieres zu hören, ein seltsames, metallisches Geräusch, ein Hochpräzisionsgerät, und er musste an Horus denken, den Boten des Überweltlichen.
Der Vogel seinerseits jedoch schien das Interesse an ihm verloren zu haben, und in einem lässigen, saloppen Schwung ließ er sich einen halben Meter in der Luft fallen, die Schwingen eingeklappt, bis er die nächste tragende Luftschicht erreicht hatte und entschwand. 

Antonius Schmidt rieb sich die Augen. Trotz Sonnenbrille fühlte er den Abdruck des zu hellen Lichts und er fragte sich, ob bleibende Netzhautschäden möglich seien. 

Langsam bewegte er sich von seinem Aussichts- und Zielpunkt fort. Und. War die Über-Welt nicht so, dachte er, während er, zurück ins Dorf, an der Ringstraße vorbei und über zertretene, irisierend glänzende Mistkäferleichen schlurfte, in ihrer Makellosigkeit kalt, unwirtlich in ihrer Perfektion und doch seltsam anziehend in ihrer kargen, geheimen Glorie?

Das Licht warf fließende Schatten auf den Asphalt, Schatten wie von Wasser, und wie in Wasser schwamm seine Zeit. Der Verkehr war beinahe zum Erliegen gekommen an diesem Sonntag Nachmittag und nur das entfernte Rauschen der Bundesstraße vermittelte ihm einen Rest von Vertrautheit. 

Aber zurück zum Strommasten und zu dem drängenden Sorgen des Alltags. Er schloss die Haustüre seiner Einliegerwohnung auf.

Zunächst sah er nur eine Eidechse. „Be nice“ stand darunter. Antonius Schmidt, der Hipster, grinste verächtlich. Ein echtes Girly-Tattoo. Jedoch schien der Besitzer des genannten dauerhaften Körperschmucks nicht zum Scherzen aufgelegt. Er maß ungefähr zwei Meter und war gefühlt mindestens ebenso breit. Sein dünner grauer Pferdeschwanz in Kombination mit dem schwarzen Motiv-T-Shirt ließ auf eine Biker-Vergangenheit schließen.

„Antonius Schmidt?“

„Derselbe.“

„Sie sind verhaftet.“

Antonius starrte den „Kasten“ fassungslos an. 

„Weshalb? Was wirft man mir vor?“

„Erst mal mitkommen.“ 

Der Kasten hatte seine Polizeimarke ausgeklappt, welche einen eigenartigen Kontrast zu seinem Motiv-T-Shirt mit Adlerkopf bildete.

„Unruhestiftung. Landesfriedensbruch“, gab er schließlich von sich, er murmelte die Worte in seinen ungepflegten Bart, in dem sie sich zu einigen Tage alten Suppennudeln gesellten und dort erstickten. Es kam nicht darauf an. Nur Vorwände, das war Antonius Schmidt klar. Er hörte im Geist bereits das metallische Klacken der Handschellen. Die Verschwörung gegen ihn hatte zugeschlagen. 

*

Zum Glück war er auf diese alte List verfallen. Nur kurz ins Nebengebäude. Auf der anderen Seite des Hofes, hinter dem Schweinestall, lagen die Latrinen.

Von dort aus war es freilich nur ein kurzer Marsch, wenn auch durch Brombeerhecken und Dornengestrüpp. Antonius Schmidt warf einen listigen Blick durch eine breite Ritze des Bretterverschlags. Sein Verfolger lehnte gelangweilt an der Hauswand. Bis zum Flusslauf, dahinter zum Bunker und hinein in eine neue Oktave, ein neues Leben.

„Wird's bald?“, tönte es Antonius Schmidt aus der Ferne in die Ohren. Er lächelte sein diebisches Lächeln, er befand sich bereits in den ersten Windungen des Brombeerpfades. 

Fünf Minuten Vorsprung für Antonius Schmidt. Dunkle Wolken ballten sich zusammen. Einen ersten Tropfen hatte er bereits gespürt. Das Dornengestrüpp lag nun beinahe hinter ihm. Hier, hinter der Lichtung, über dem Hügel, erwartete ihn der rettende Eingang. Die Luft, elektrisch geladen und wie zum Schneiden dick, schien seine Bewegungen zu verlangsamen. Und wie in Zeitlupe quälte er sich die letzten Meter der freien Fläche zu. 

In dem Moment erleuchtete ein greller Blitz den Himmel. Und hier das Grollen, mit dem sich die  rabenschwarze Energie des Tages entlud. Nieder mit dem Atomstrom! Antonius Schmidt brüllte im Geist seine Parolen, als ihn die leuchtende Kugel traf. Das Gleißen war nun nicht nur entferntes Schauspiel, es war unmittelbar um ihn und er war Teil seiner Energie, der echten, über-hellen, absoluten. „Ach deshalb...“, dachte Antonius Schmidt, als würde ihm nun alles klar, ergäbe jedes der losen Puzzleteilchen im Mosaik seines Lebens und seiner Weltsicht mit einem Mal einen Sinn – einen letzten. Schade, dass er diese wundervolle Erkenntnis nicht mehr würde weitergeben können.

*

Die kärglichen Blumen im Krankenhauszimmer verströmten einen bittersüßen Duft. 

Der Blitz hatte eingeschlagen, in geringer Entfernung. Sein weißes Leuchten, Physik und Metaphysik, war das Letzte, woran er sich erinnerte. 

Wie erklärbare solche Phänomene doch waren, das Aufeinanderprallen zweier unterschiedlich temperierter Luftmassen, die elektrische Entladung, bis zur atomaren und molekularen Ebene deutlich und klar zu entschlüsseln.

Doch wenn man das Ereignis erlebt hatte, so wie er, mit dem eigenen Leib und an der eigenen Haut (die noch Brandspuren trug), dann vermochte einen diese Erklärung nicht gänzlich zu befriedigen. 

Er wusste, dass sie korrekt war, er war schließlich ein naturwissenschaftlich gebildeter Mensch. Aber er wusste auch, was er gesehen hatte. Luftmassen und Teilchen: All dies machte Sinn, auch spürbaren Sinn, und doch mangelte dieser Erklärung zugleich das Wesentliche: die Erfahrung. 

Auf seltsam verschlungenen Pfaden hatte der Kosmos ihn wissen lassen, wo er ihn haben wollte. Und voll Elan würde er sich nun an seine neue Mission machen. Nur dumm, dass seine Entlassung aus dem Krankenhaus allerfrühestens in zwei Wochen bevorstand. 

*

Immer die Dinge in der Zeit, welche in der Zukunft liegen, erscheinen ketzerisch, verboten, gefährlich und geradezu falsch, als ein gefährlicher, verführerischer, aber umso unrichtigerer Irrglaube. So ging es dem mittelalterlichen Menschen mit der Naturwissenschaft, die trotz gewisser scheinbar richtiger Schlüsse, für jeden Bauern erfahrbar, durch ihren materialistischen Reduktionismus das einzig wahre Weltbild der jeweils herrschenden Kirche gefährdete und somit das Seelenheil der Menschheit. 

Und so ging es nun mit den fein-stofflichen Wahrnehmungen, die dem einen oder anderen dämmerten, aber deren Eindruck doch zu unbestimmt blieb, als dass dieser als Beweis oder auch nur als dauerhafter Bestandteil des Lebens hätte gelten können. In 500 Jahren, dachte Antonius Schmidt, würde man wohl über den „primitiven Menschen des 20. Jahrhunderts und an der Wende zum 21. Jahrhundert“ und seine materialistische Engstirnigkeit lachen.


Er kniete vor dem Stromverteilerkasten. Passanten blickten ihn ungläubig, auch belustigt, an. Oh heiliger Antonius. Die Arbeit war anstrengend, aber Antonius Schmidt verrichtete sie gerne. Es war seine Pflicht, die Energie des Erwachens und der Erleuchtung, die ihm zuteil geworden war, in die Verteilerkästen einzuspeisen. Und er würde dieser Verpflichtung nachkommen, und wenn sie ihn das letzte bisschen Verstand kosten sollte.